Sagenerzählungen Visperterminen
Die Sagen führen in eindrücklichen Bildern den Menschen das vor Augen, was sie seit jeher bedrängt und bedroht, was zugleich ihre Phantasie anregt.
Es gibt eine äussere, offenkundige Geschichte eines Volkes, die von verbürgten Ereignissen, gesicherten Tatsachen berichtet. Es gibt aber auch eine "Innenwelt", von der man kaum spricht. Die Sagen erzählen nicht von überprüfbaren, verbürgten Ereignissen, sondern vom Jenseits, von der Schattenwelt des Todes, der Bosheit des Menschen, der Ungerechtigkeit, der rohen Naturgewalt.
Übersinnliche Kräfte, das Spannungsverhältnis von Diesseits und Jenseits prägen die Sagenmotive des Wallis, eine der sagenreichsten Regionen der Schweiz. Von untergegangenen Ortschaften, verwüsteten Alpen bis zu Gratzügen und Totenprozessionen spannt sich der Rahmen der unerschöpflichen Sagenwelt. (Josef Guntern: Sagen der Schweiz, Wallis)
Natürlich gibt es auch von Visperterminen und der näheren Region einige Sagen. Gerne möchten wir Ihnen diese zugänglich machen. Viel Spass bei der Lektüre.
Verschiedene Sagen
Gemeindetrunk
Vor der Französischen Revolution trank im Gemeindehaus jeder Burger aus einem silbernen Becher. Drei Tage lang tat man sich am Trunke gütlich und hörte nicht eher auf, bis die Pförtlein sämtlicher Weinkufen aus dem Gemeindekeller vor den Burgern auf dem Tische lagen.
Jeder Burger durfte dann in der Gewissheit nach Hause gehen, der letzte Tropfen sei getrunken worden.
Heinzmann
In der Waldkapelle Visperterminen ist ein Motivbild verloren gegangen, welches Stephan Heinzmann, genannt "der Grosse", einmal dort aufhängte.
Stephan Heinzmann, der im Weiler Bitzinen unterhalb Visperterminen wohnte, fuhr einst mit einem Saum Korn hinunter nach Brig. Auf dem Rückweg musste er bei Nacht die damals unheimliche Passage "Rohrflühe" passieren, wo er unversehen von einem Strassenräuber überfallen wurde. Dessen Worte lauteten einfach: Geld oder Blut!
Heinzmann, ein beherzter und handfester Mann, verlor die Fassung nicht, sondern packte den Räuber bei der Hand und sprach: „Also gut, jetzt habe ich einen Gesellschafter bis nach Visp; ich gehe nicht gerne allein! Mach mir aber keinen Mucks, noch weniger ein Zeichen, um deine Kameraden herbeizurufen, sonst schlage ich dich augenblicklich mausetot!“
Der Räuber fühlte, dass ihm Heinzmann an Kräften weit überlegen war, und folgte ihm willig an der Hand bis oberhalb Visp. Dort entliess ihn "der Grosse" mit einem derben Fusstritt und dankte für die geleistete Gesellschaft. Der Räuber antwortete: „Danke nicht mir sondern deinen festen Knochen!“
Am folgenden Tage fand Heinzmann seine Hände ganz beschmiert vom Blute, das er dem Räuber unter den Fingernägeln ausgepresst hatte.
Aus Dank für die Rettung hängte er in der Waldkapelle die erwähnte Votivtafel auf.
Hufeisen & Haarflechte
Eine halbe Stunde oberhalb des Dorfes Visperterminen steht die Waldkapelle. Unter den vielen Votivtafeln, die an der Wand hängen, fallen dem Besucher direkt ein Hufeisen und eine Haarflechte auf. Von diesem Hufeisen und der Haarflechte handelt die Sage.
In der Nähe des Gebidempasses befindet sich die Alpe Rüspeck. Wo heute nur mehr eine Stallung und eine Sennhütte stehen, soll früher ein grosses Dorf gestanden haben. Die Bewohner des Dorfes Rüspeck mussten ihre Toten bis zur Kirche von Naters tragen. In Rüspeck lebte ein Schmied. Eines Morgens, als der Schmied in seiner Werkstatt hämmerte, kam ein fremder Reiter im vollen Galopp daher gesprengt und hielt bei der Schmiede an. "Meister, beschlage mir schnell das Pferd, ich habe noch einige Geschäfte im Dorf. In einer halben Stunde bin ich wieder da. Es eilt."
Da holte sich der Meister vier neue Hufeisen und begann seine Arbeit. Als er die Hufe des Pferdes ergriff, röchelte und wieherte das Pferd in einer ihm bekannten Menschenstimme. "Schlage nicht zu hart, denn du schlägst auf dein eigenes Fleisch und Blut."
"Was soll das!", schrie der Schmied erschrocken. "Ach", erwiderte das Pferd, "schnell, beendige deine Arbeit, damit ich eiligst entfliehen kann. Ich bin es, deine Tochter, die du verwünscht hast. Und der mich reitet, ist der Teufel, dem du mich übergeben hast. Heute ist der letzte Tag, an dem noch Rettung möglich ist, sonst bin ich für ewig verloren."
Der Vater antwortete: "Oh ich unglückseliger Vater, was kann ich für dich tun?" "Meine Rettung ist einzig möglich, wenn ich dem Teufel entlaufen und über neunundneunzig Friedhöfe springen kann." "Gott rette dich mein Kind", seufzte der Vater, schlug die letzten Nägel ein und löste das Pferd vom Zaun. "Leb wohl, mein Vater. Meine Brüder und Schwestern sollen für mich beten." Mit diesen Worten ritt das Pferd von dannen.
Als der fremde Reiter zurückkam und sah, dass das Pferd nicht mehr dort war, donnerte er den Meister an: "Wo ist mein Pferd?" Der Schmied antwortete: "Es muss hinaus auf die Weide gegangen sein." "Wie, du hast das Pferd losgebunden?" Der Meister erwiderte schlagfertig: "Bin ich denn der Hüter ihres Pferdes? Ich habe es beschlagen und dafür habt ihr zu bezahlen. Das Übrige gibt mich nichts an."
Der Teufel grinste höhnisch und sprach: "Du sollst es bereuen, jetzt ist sie mein." Er warf das glühende Geld dem Meister vor die Füsse und suchte unter wildem Fluchen das Weite. "Heilige Jungfrau", bat der unglückliche Vater, "rette doch mein armes Kind. Ich will den Frevel, den ich an ihm begangen habe wieder gutmachen." Und auch seine Söhne und Töchter fielen auf die Knie und beteten für die arme Schwester.
Beim neunundneunzigsten Friedhof ergriff der Teufel im letzten Sprunge den Schweif des Pferdes und hielt stattdessen die Haarflechte der Tochter in der Hand. Voller Zorn warf der Satan diese neben die am Boden liegenden Hufeisen.
Nach vielen Tagesreisen kam die Tochter mit den Hufeisen und der Haarflechte im Hause des Vaters wieder an. Dieser schmiedete die vier Hufeisen in eines zusammen und hing es neben der Haarflechte aus Dankbarkeit gegenüber der Muttergottes und zur ewigen Erinnerung an diese merkwürdige Begebenheit in der Waldkapelle oberhalb Visperterminen auf.
Quelle: Guntern - Volkserzählungen aus dem Oberwallis ( S.227)
Hungersnot
Die Jahre 1816 und 1817 waren harte Hungerjahre. Im Jahre 1817 gab es zwar wieder etwas Korn, aber es war so teuer, dass man es lieber verkaufte, um zu etwas Geld zu kommen. Zu jener Zeit säumte man das Korn besonders nach Simplon, weil man von dorther auch das Salz über den Bistinenpass einführte. Oft konnte man nicht Maultiere genug auftreiben, um Korn hinüber- und Salz zurückzuführen.
Der Wein gefror ebenfalls 1817 und wurde so selten und teuer, dass mehrere alte Männer, aus Mangel an diesem stärkenden Getränk, nacheinander gestorben sein sollen. Der höchste Weinertrag einer Haushaltung war ein Lagel. Der Wein war aber derart gefroren und unreif, dass man ihn über einem Feuer zum Sieden bringen musste.
Die meisten Haushaltungen landauf und landab litten grossen Hunger. Es war die Zeit, wo die Erdäpfel erst recht zu Ehren kamen. Bis dahin hielt man sie eher als Nahrungsmittel für die Schweine, und es musste sich einer schämen, Erdäpfel auf den Tisch zu setzen. Wer mehr als einen Tragkorb voll einsammelte, erregte allgemeines Gespötte. In den genannten zwei Jahren war auf einmal jeder froh, wenn er auch nur mit Erdäpfeln seinen Hunger stillen konnte.
Lindwurm
Der «Lindwurm» - ein Drache mit langem Schwanz - sei es gewesen, bei dem weder Mensch noch Tier sicher war, erzählte man sich.
Einst lebte oberhalb von Visperterminen im schönen Bergsee der «Lindwurm», ein grosser Drache, den alle Leute fürchteten.
Sein langer Schwanz war baumdick und aus seinem Panzer ragten zwei zusammengefaltete Fledermausflügel hervor. Er lag in seinem Nest beim Bergsee und lauerte auf seine Beute. Erblickte er irgendwo ein Lebewesen, egal ob Schaf, Ziege, Kuh oder Mensch, schoss er seinen Echsen-Kopf hervor. Der Drache schaute seine Opfer an und verschlang sie in seinen grossen Rachen.
Dieser Drache war eine furchtbare Plage für alle Dorfbewohner und niemand hatte eine Idee, wie man das Ungeheuer loswerden könnte.
Dann geschah folgendes: Im Nanztal erschlug ein Mann eines Tages im Streit seinen Nachbarn. Das Gericht von Naters verurteilte den Mann zum Tode. Die Bevölkerung bat jedoch den Richter, man solle den Verurteilten freisprechen, wenn es ihm gelänge, den Lindwurm zu töten. Das Gericht ging auf den Vorschlag ein.
Der Mann fertigte sich ein Lederkleid an, mit eingearbeiteten Spiessen und Sensespitzen. Bewaffnet mit zwei scharfen Messern und seinem spitzigen Kleid, machte er sich auf den Weg, um den Drachen zu töten. Als er zum Drachennest kroch, sahen ihn die Drachenaugen bald und schwups verschlang ihn das Drachenmaul.
Doch die Spiesse und Sensespitzen drangen in den Drachenschlund, sodass es Blut spritzte. In seinem Schmerz überflog der «Lindwurm» das Nanztal und liess sich auf der gegenüberliegenden Talseite nieder, wo er starb. Mit den Messern schnitt sich der Stachelmann ein Loch in den Drachenhals und kroch heraus. Er dankte Gott und war frei.
Die Spuren des Drachens sind noch heute an einem schlangenförmigen Wall im Nanztal zu sehen. Das einstige Nest des Drachens ist heute ein friedlicher Bergsee und man würde nicht glauben, dass hier einst ein so furchtbares Ungeheuer gehaust hatte.
Aus dem Buch ‚Visperterminen‘ von German Studer- Freuler
Nanztal
Es soll Tatsache sein, dass früher das ganze Nanztal bewohnt war. Als Beweis erzählten die Alten noch heute, dass im obern Faulmoos sich einst ein Brautpaar gegenseitig einige Matten samt Obstbäumen zum Ehekontrakt gegeben haben.
Unter der Heiden-Wasserleite habe man zu Beginn des 19. Jahrhunderts zudem noch einige Bündel Heiden-Rebholz gefunden.
Als Visperterminen noch zur Pfarrei Naters gehörte, sollen alljährlich an Fronleichnam zwölf Paare festlich gekleideter Jungfrauen, mit frischen Rosen und Nelken in den Haaren, aus dem Nanztal nach Naters zum Gottesdienst gekommen sein.
Tschärry
Einst rief man den Tschärry nach Terminen, um ein krankes Füllen zu „doktern“.
Er goss ihm etwas ein und ging anschliessend ins Haus des Besitzers. Dort wollte man ihm mit Nidel aufwarten, aber Tschärry hätte lieber einen Schluck Heida verkostet. Indessen schaute jemand der Hausleute im Stall nach, wie es dem Füllen jetzt gehe, und meldete zurück, es strecke alle Viere von sich und sei am Verenden.
Der Tschärry meinte dazu trocken: „De mechtermu appa öi Nidla ischrecku wie mier!“ Jetzt erst merkten sie, man hätte dem „Doktor“ vielleicht doch Wein anbieten sollen und gaben ihm nun Heidawein. Bald danach stand das Füllen wieder und blieb gesund.
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